Gedanken zum Genick des Pferdes

Das Genick des Pferdes stellt für gerittene oder gefahrene Pferde eine Schlüsselstelle dar. Jeder Reiter lernt: das Genick soll der höchste Punkt des Pferdes sein? Warum eigentlich? Und stimmt das wirklich uneingeschränkt?

Wozu wurde das Pferd erschaffen?
Erst einmal muss man sich darüber klar werden, wozu Pferd von der Natur erschaffen wurde:
um 16 Stunden am Tag zu fressen und das natürlich mit gesenktem Kopf.
In dieser Haltung ist die Brust- und Lendenwirbelsäule durch das Rückenband, Ligamentum supraspinale so stabilisiert, dass die ca. 150 – 200 kg schweren Eingeweide ohne Muskelkraft getragen werden können. Der gesenkte Kopf hängt am Nackenstrang Foeniculus nuchae, der in das Rückenband übergeht. Der Unterkiefer rutscht ein Stück Richtung Boden, so dass die Schneidezähne genau übereinander stehen und die Kiefergelenke führen lockere, kreisende Mahlbewegungen aus.
In den restlichen 8 Stunden des Tages ruht das Pferd, wobei der Hals etwa waagerecht getragen wird, oder es liegt.
Die naturgemäße Bauart des Pferdes ermöglicht es ihm in geradezu unglaublich kraftsparender Weise sein Leben zu verbringen.
Die prozentual gesehen seltenen Momente, an denen das Genick eines wildlebenden Pferdes der höchste Punkt ist, sind Spiel, Allarmbereitschaft, Flucht und Verteidigungs- oder Imponierverhalten des Hengstes.

Wie ist das Genick aufgebaut? Ein bisschen Anatomie:
Das knöcherne Genick des Pferdes besteht anatomisch gesehen aus dem Hinterhauptsbein Os okzipitale (einem Schädelknochen) und dem 1. Halswirbel, dem Atlas. Funktional gehört auch noch der 2. Halswirbel, der Axis dazu.
Zwischen Hinterhauptsbein und Atlas befindet sich das 1. Kopfgelenk, welches Nickbewegungen ermöglicht, Zwischen Atlas und Axis liegt das 2. Kopfgelenk, das für die Drehbewegung des Kopfes zuständig ist.
Eigentlich nicht vom Genick zu trennen sind die Kiefergelenke Temporomandibulargelenke und die Zungenbeingelenke Temporohyoidalgelenke, so dass man auch von der Temporo-mandibular-hyoidal-okzipital (TMHO)-Region spricht.
Bewegt werden diese Gelenke durch viele kleine und große Muskeln und das ausgesprochen fein koordiniert. Während der Kopf beim Grasen am Nackenband „hängt“ ist das 1. Kopfgelenk geschlossen und es wirken kaum Kräfte auf diese Muskeln ein. Sie befähigen das Pferd zu fein koordinierten Bewegungen mit Kopf und Maul.
Die gesamte Wirbelsäule bildet von Kopf bis Schweif eine konvexe Kurve ohne scharfe Biegungen.

Das bewegliche Maul – die „Hand“ des Pferdes
Die menschliche Hand ist zu äußerst feinen, koordinierten Bewegungen fähig. Ähnliche Fähigkeiten hat das Pferdemaul. Manch einer kann ein Lied davon singen, dass sein Pferd die feinen Mineralfutterpellets aus dem Kraftfutter aussortiert. Das ist nur möglich, weil das Pferd eine äußerst bewegliche Oberlippe hat und mit seiner TMHO-Region (siehe oben) unglaublich genaue Bewegungen mit dem Kopf ausführen kann. Die Muskeln, die dafür nötig sind, sind reine Bewegungsmuskeln, sie sind nicht dafür geeignet Kraft auszuüben.
Ihre natürliche Aufgabe ist es, mit dem Pferdekopf beim Grasen seitliche Rupfbewegungen auszuführen und den Kopf nach vorne und hinten zu führen, sowie Augen und Ohren genau zu positionieren.

Was passiert, wenn das Pferd seinen Kopf hebt?
Hebt das Pferd seinen Kopf über die Waagerechte, lockern sich Nacken- und Rückenband und die Wirbelsäule ist nicht mehr stabilisiert. Das Pferd muss seinen Kopf mit reiner Muskelkraft tragen.
Die Halswirbelsäule verändert ihre Form: es entstehen scharfe Biegungen im Genick und im Übergang zur Brustwirbelsäule (cerviko-thorakaler Übergang, CTÜ), sie wird S-förmig.
(So wird leider jedes Pferdeskelett dargestellt, so dass man fälschlicherweise glaubt, diese Form sei die natürliche.) Innerhalb dieser Biegungen werden die Wirbel ineinander gestaucht, was sie verletzungsanfälliger macht.
Der Brustkorb, der beim Pferd rein muskulär und faszial aufgehängt ist, sinkt ohne den Halt des Nacken-Rückenbandes zwischen den Vorderbeinen nach unten. Dadurch wird der Brustkorb etwas komprimiert und die Atmung etwas erschwert. Die gesamte Brust- und Lendenwirbelsäule hängt etwas durch und die Last der Eingeweide muss rein über Muskelkraft getragen werden.

Der Einfluss des Reiters
Jeder Zug am Zügel oder auch nur am Halfter (über)dehnt die kurzen Nackenstrecker.
Kippt das Pferd, wie im Sport gewünscht, im Genick ab, geht also am Zügel, öffnet sich das 1. Kopfgelenk. Das Nackenband und die Bewegungsmuskeln des Genicks, bzw. der TMHO-Region werden gedehnt und müssen Haltekräfte aufbringen, für die sie nicht ausgelegt sind.

Was passiert bei Überlastung der feinen Bewegungsmuskeln?
Machen Sie doch einmal einen Selbstversuch: nehmen Sie eine Milchtüte mit einem Liter Inhalt in beide Hände und strecken Sie die Hände in Schulterhöhe waagerecht nach vorne. Wie lange können Sie in dieser Stellung bleiben, ohne dass es unangenehm wird?
Das unangenehme Gefühl, bzw. die Schmerzen, wenn Sie die Haltung noch länger halten, sind die Folge von exzentrischer Muskelarbeit, das heißt, die gedehnten Muskeln müssen Haltearbeit verrichten. Es kommt schnell zu Minderdurchblutung und so zu Schmerzen.
Das Gleiche passiert mit den Nackenstreckern des Pferdes.

Strategien gegen den Schmerz
Werden sie, wie so oft beim Reiten, zu lange in unphysiologischer Haltung fixiert, nimmt das Pferd Schonhaltungen ein.
Durch „Einrollen“ des Halses versucht es z.B. die großen Beugemuskeln des Halses zur Mitarbeit heranzuziehen und so die kurzen Nackenstrecker zu entlasten.
Oder es geht gegen den Zügel und hebt sich heraus.
Beide Strategien gehen auf Kosten der gesamten Statik und haben Überlastungen von Vorhand, Rücken und Hinterhand zur Folge, woraus sich im Laufe der Zeit Erkrankungen wie Schale, Hufrollenprobleme, Kissing Spines, Spat und noch viele andere entwickeln können.

Darf ich also mein Pferd nicht mehr in Aufrichtung reiten ohne ihm zu schaden?
Bitte denken Sie immer daran, dass Muskeln nur gut arbeiten können, wenn sie sich regelmäßig an- und entspannen. Entspannen können sich die feinen Bewegungsmuskeln des Genicks und alle anschließenden Strukturen nur, wenn das Pferd locker vorwärts-abwärts geht und die Nase vor die Senkrechte nehmen kann. Diese Stellung ist während des Trainings immer wieder einzunehmen!
Die absolute Aufrichtung kann auch ein trainiertes Pferd nur einige Minuten (!) ohne schmerzende Muskulatur halten! (Denken Sie an Ihr Experiment mit der Milchtüte.) Fordert man diese Haltung länger ein, wird das Pferd Strategien entwickeln, dem Schmerz zu entgehen.

Das Genick als höchster Punkt
Wie Sie wissen kommt Aufrichtung nicht dadurch zustande, dass man den Kopf des Pferdes mit Hilfe der Zügel nach oben zieht, sondern dadurch, dass die Hinterhand Last aufnimmt und sich absenkt. Das alleinige hochnehmen des Pferdekopfes ist immer ungesund und schadet der gesamten Statik des Pferdes.
Schnell passiert es dann, dass ein falscher Knick entsteht, der Halsbereich hinter dem Genick den höchsten Punkt bildet und die Nase hinter die Senkrechte kommt.
In echter Versammlung ist das Genick des Pferdes automatisch der höchste Punkt.
In den Reitlehren wird darauf hingewiesen, dass sich der Nasenrücken in der Aufrichtung etwas VOR der Senkrechten befinden sollte. Leider leben uns viele „große Dressurcracks“ ganz anderes vor, zum Schaden der Pferde.
Der Weg zu echter Versammlung ist lang und mühsam. Die Versuchung von Reitern und Trainern, die Sache etwas zu beschleunigen ist groß.
Deshalb sehe ich, wenn ich Pferde osteopathisch befunde, sehr häufig die Folgen von falscher Aufrichtung.

Muss ich mein Pferd versammeln, damit es gesund bleibt?
Hier ist die Antwort ganz klar: nein!
Für Distanz-, Spring-, Renn- oder Geländepferde ist Versammlung nicht nötig.
Damit meine ich nicht, dass sie kein Training brauchen! Auch bei ihnen muss selbstverständlich Trag- und Schnellkraft sowie Koordination trainiert werden, damit sie möglichst verschleißfrei ihren Reiter tragen können.

Haben Sie weitere Fragen?
Ich hoffe, der kleine, unvollständige Exkurs über das Genick des Pferdes hat Ihnen gefallen und Sie fanden ihn lehrreich. Wenn Sie Frage haben, können Sie mich gerne kontaktieren.

Quellen:
„Gutes Training schützt das Pferd“ Barbara Welter-Böller & Max Böller, Cadmos 2016
„Manuelle Therapie der Pferdewirbelsäule“ Tanja Richter, Sonntag Verlag 2006

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