„Hebt der schon das Bein? Dann ist es Zeit für den Chip!“ – Gedanken zur chemischen Kastration beim heranwachsenden Rüden

Letzte Woche in der Welpen- und Junghundegruppe fragte mich der Trainer: „Hebt der schon das Bein?“
Gemeint war mein 7 Monate alter Schäferhund-Labrador-Mix Rüde Bjarni.
„Ja.“ sagte ich wahrheitsgemäß.
„Dann wird es Zeit für den Chip!“ war sein Ratschlag, der mich sehr verwunderte, was ich ihm auch sagte:
„Ich halte einen Hormonchip für einen noch im Wachstum befindlichen Jungrüden für einen zu großen Eingriff ins Hormonsystem!“
Er lachte etwas herablassend und meinte: „Das ist kein Eingriff, eine Kastration ist ein Eingriff! Hier bekommt er nur einen Chip unter die Haut. Der Testosteronspiegel wird nur leicht gesenkt und der Hund wird wieder klar im Kopf. Im Moment dringst du ja gar nicht mehr zu ihm durch. Das kann zu gefährlichen Situationen führen und Ruck Zuck hast du einen Beißer!“

Da ich mich mit dem Thema noch nicht eingehend beschäftigt hatte, sagte ich, dass ich da meine Zweifel hätte und mich erst noch einmal informieren wolle. Das Ergebnis meiner Recherchen möchte ich nun mit Euch / Ihnen teilen.


Worum geht es überhaupt? – Etwas graue (aber wichtige) Theorie:
Es geht um das Präparat Suprelorin® ad us. vet. von der Firma Virbac. Dieses wird dem Rüden in Form eines Chips unter die Haut implantiert, wo es für die geplante Zeitdauer, entweder 6 oder 12 Monate verbleibt und sich nach und nach vollständig auflöst.
Der Chip setzt kontinuierlich ein synthetisch hergestelltes Hormon (Deslorelin) frei.
Dieses wirkt analog dem natürlichen Hormon GnRH (Gonadotropin releasing hormone), welches dafür zuständig ist, dass LH (Luteinisierendes Hormon) freigesetzt wird – die Vorstufe zum Testosteron.
Das LH bewirkt, dass beim Rüden im Hoden und in ganz geringem Maße in der Nebennierenrinde Testosteron produziert wird.
Eigentlich stimuliert das GnRH die Bildung von Testosteron. Wird dem Körper aber kontinuierlich eine geringe Menge GnRH bzw. Deslorelin zugeführt, wird die Bildung von Testosteron stark gehemmt.
Es kommt zur Verminderung des Testosteronspiegels im Blut, die Hoden atrophieren (schrumpfen), der Rüde ist nicht nach vollständiger Entfaltung der Wirkung nicht mehr zeugungsfähig.

Was bewirkt Testosteron eigentlich im heranwachsenden Körper?
Testosteron wird vermehrt ab der Pubertät gebildet und zwar bei weiblichen und männlichen Tieren, wobei der Testosteronspiegel beim männlichen Tier wesentlich höher ist.
• Das Hormon sorgt für die Bildung der geschlechtstypischen Merkmale und sorgt beim Rüden für Ausbildung der männlichen Genitale.
• Es hat Auswirkungen auf Haut und Haarkleid. Das sogenannte „Babyfell“ weicht strukturierterer Behaarung.
• Das Hormon fördert die Muskelentwicklung, weshalb männliche (unkastrierte) Tiere muskulöser und kräftiger sind als weibliche.
• geringe Mengen Testosteron fördern das Wachstum des epiphysären Knorpels (das bedeutet, dass beim Hund vor der Pubertät die geringe Testosteronmenge für das Längenwachstum des Knochens sorgt)
• höhere Mengen an Testosteron fördern die Kalzifizierung der Knochen und den Schluss der Epiphysenfugen. Das bedeutet, dass in der Pubertät mit Hilfe des Testosterons die Knochendichte höher wird, die Knochen werden tragfähiger und die Wachstumsfugen schließen sich!!!
Beim erwachsenen Rüden sorgt das Testosteron zusammen mit anderen körpereigenen Stoffen dafür, dass die Knochen stabil bleiben.

Was sind die Nebenwirkungen einer Behandlung mit dem „Kastrationschip“?
Sieht man von Problemen an der Einstichstelle einmal ab, sind die Nebenwirkungen die gleichen, die bei einer Kastration eintreten können:
• Fellveränderungen „Welpenfell“
• Harninkontinenz
• vermehrter Hunger, Gewichtszunahme
• Verhaltensauffälligkeiten
Hat sich der Chip aufgelöst, verschwinden diese Nebenwirkungen auch wieder.
Allerdings habe ich aktuell einen Rüden in Behandlung, der noch 2 Jahre nach den eigentlichen auswirken des Chips Welpenfell und winzige Hoden hat.

Mein Fazit:
Da
• der Suprelorin-Chip die gleichen „Nebenwirkungen“ wie eine vollständige Kastration hat,
• sich die Hoden auf Erbsengröße zurückbilden
• der Testosteronspiegel im Blut DEUTLICH sinkt
• und Testosteron eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Körpers, auch der Knochenentwicklung hat,
müsste man schon sehr blauäugig sein, um zu meinen, dass der Chip nur Einfluss auf Zeugungsfähigkeit und Verhalten hat!
Ich werde meinen im Wachstum befindlichen Rüden auf keinen Fall chippen lassen!
Zu groß ist die Möglichkeit, dass die Knochenentwicklung unter der Hormontherapie leidet!

Leider ist es, wie ich bei Befragung einiger Kunden und Bekannten feststellen musste, in vielen Hundeschulen gang und gäbe, den Haltern von pubertierenden Rüden den Chip als völlig ungefährliche Problemlösung auf Zeit anzupreisen.
Von vielen Tierärzten wird der Chip zum Glück erst ab dem Alter von einem Jahr empfohlen.
Ich hoffe, dass meine kleine Recherche zum Nachdenken angeregt hat!

Was habe ich dazu im Internet gefunden?
Ich setze hier Links zu einigen sehr interessanten Seiten ein. Es lohnt sich, sie komplett zu lesen! Einige Zitate fand ich besonders bemerkenswert und habe sie mit Quellenangabe kopiert.

Sehr interessant:
http://www.tierarzt-rueckert.de/blog/details.php?Kunde=1489&Modul=3&ID=19773
Kastration auf Probe: Das Suprelorin-Implantat (Kastrations-Chip)

Unter
https://www.tierklinik.de/medizin/andrologie/kastration-des-rueden/methoden-der-kastration/medikamentoese-kastration
findet man u. A.:
„Durch das Überangebot an GnRH und den freigesetzten FSH und LH werden unter der Dauerstimulation dieser Botenstoffe aus der Hypophyse die Rezeptorzellen in den Hoden zurückgebildet, sodass die Testosteronfreisetzung bis zur sechsten Woche von den Hoden völlig eingestellt wird.“

Unter
http://www.vetpharm.uzh.ch/reloader.htm?tak/05000000/00059061.01?inhalt_c.htm
findet man:
„Während der Behandlungsdauer (mit Suprelorin) verringert sich die Hodengrösse. Die potentiellen Folgewirkungen einer Langzeitbehandlung auf die Prostata, das Fell und die Muskelmasse wurden nicht gezielt untersucht.“
und
„Die Anwendung des Implantats bei noch nicht geschlechtsreifen Hunden wurde nicht untersucht. Daher wird empfohlen, vor dem Einleiten einer Behandlung das Eintreten der Geschlechtsreife abzuwarten.“

http://www.vetpharm.uzh.ch/WIR/00005777/3656__F.htm:
„Deslorelin wirkt ca. 150-fach stärker als natürliches GnRH (EMEA 2007d; Gobello 2007).“

Unter
http://www.ema.europa.eu/docs/de_DE/document_library/EPAR_-_Product_Information/veterinary/000109/WC500068835.pdf findet man:

„4.5 Besondere Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung

Besondere Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung bei Tieren
Die Anwendung des Tierarzneimittels bei Hunden vor der Geschlechtsreife ist bisher nicht untersucht worden. Es wird deshalb empfohlen abzuwarten, bis Hunde die Geschlechtsreife erlangt haben, bevor die Behandlung mit diesem Tierarzneimittel begonnen wird.“

Veröffentlicht unter Allgemein