Der folgende Artikel ist für Tierhalter interessant, ich habe ihn aber auch für meine Akupunktur-Schüler geschrieben, so dass er einige TCM-Fachausdrücke beinhaltet.
Sollten Sie als Tierhalter Fragen haben, können Sie mich gerne kontaktieren.

Das geriatrische Vestibularsyndrom aus der Sicht der TCM

Für Hundebesitzer ist es ein großer Schock: ihr Hund, der sich eben (scheinbar) noch völlig normal verhielt, hält plötzlich den Kopf schief, taumelt zu der Seite des tiefer gehaltenen Ohrs, stürzt eventuell, bewegt sich wie ein Betrunkener. Manche Hunde können sich aus eigener Kraft nicht mehr erheben.

Ein weiteres Symptom ist Nystagmus (Die Augäpfel bewegen sich von einer Seite zur anderen) oder Strabismus (Schielen).
Durch den Schwindel kommt es zu Übelkeit, manchmal zu Erbrechen und zu Inappetenz.
Beim Blick in den Napf wird dem Tier schlecht, weil alles schwankt. In der Regel frisst das Tier, wenn es aus der Hand gefüttert wird.
Einige Tiere sind sehr aufgeregt und leicht panisch, andere sind ruhig bis apathisch.

Hierbei handelt es sich vermutlich um das Vestibularsyndrom (VS), das meist ältere Hunde, selten auch Katzen betrifft.
Manche Behandler bezeichnen die Symptomatik vor dem Tierhalter als „Schlaganfall“ oder „Hörsturz“.
Diese Begriffe sind häufig besser greifbar als der sperrige Begriff „Vestibularsyndrom“ und werden der Einfachheit halber gewählt.
Mit einem Schlaganfall, also einer Durchblutungsstörung im Gehirn, mit nachfolgendem Absterben von Gehirnzellen hat diese Erkrankung allerdings nichts zu tun.
Hier ist das Gleichgewichtsorgan, das Vestibularorgan betroffen. Was genau sich dort abspielt ist allerdings noch nicht erforscht.
Im Fachbuch „Praktikum der Hundeklinik“ heißt es: „Idiopathisches, meist spontan wieder verschwindendes peripheres Vestibularsyndrom, für das bislang kein die Störung erklärendes morphologisches Korrelat gefunden werden konnte.“

Differentialdiagnostisch
sind Ohrenerkrankungen, z.B. Otitis media / interna, Infektionskrankheiten wie z.B. Staupe oder Toxoplasmose, Traumata oder Erkrankungen des Gehirns wie Granulomatöse Meningoenzephalitis (bei der die Ursache im Übrigen auch nicht geklärt ist und ebenfalls alte Hunde betrifft) abzuklären.
Wichtig ist auch die Überprüfung der Schilddrüsenhormone, da eine Hyper- (Katze) oder Hypo- (Hund) -thyreose das Krankheitsbild des VS auslösen kann.

Schulmedizinisch
wird palliativ behandelt. Je nach Schweregrad des Syndroms erhalten die Tiere eine NaCl-Infusion, die die Durchblutung und die Kreislaufsituation verbessert. Manchmal werden Übelkeit und Erbrechen medikamentös behandelt.
Ist das Tier sehr aufgeregt, bekommt es evtl. Beruhigungsmittel.
Einige Tierärzte behandeln noch mit Kortison, was aber erwiesener Weise keinen Nutzen bringt.

Die Prognose
ist günstig. In der Regel klingen die Symptome nach 2-3 Wochen von alleine ab. Zurück bleibt häufig eine leichte Kopfschiefhaltung.

Zusammengefasst:
Man weiß nicht, woher das VS kommt, aber es heilt von alleine wieder völlig ab. Also keine
Sorge! – oder doch?

Ich hatte einige Fälle des VS zur Nachbehandlung in meiner Praxis. Es handelte sich ausnahmslos um ältere Hunde, Rüden und Hündinnen, kastriert und unkastriert.
Ausnahmslos alle Hunde genasen nach kurzer Zeit und wurden dann nicht mehr in meiner Praxis vorgestellt, bis ich von einigen Haltern dieser Hunde nach meist 6-12 Monaten wieder kontaktiert wurde, weil die Hunde wieder unter Gleichgewichtsstörungen oder auch Krampfanfällen litten.
Eine Bekannte von mir, die in einer großen Hundephysiotherapie-Praxis arbeitet bestätigte ebenfalls, dass sich einige Hunde nicht gut vom VS erholen und weiterhin Kopfschiefhaltung und/oder Gleichgewichtsstörungen haben oder insgesamt abbauen.
Von mir befragte Tierärzte bestätigten, dass das Risiko eines Rezidivs des VS relativ hoch sei.
Weiterhin erfährt man vom Tierhalter während der Anamnese häufig, dass sich bereits einige Tage bis Wochen vor dem Ausbruch der akuten Symptomatik leichte Verhaltensäderungen oder Schwächesymptome bemerkbar machten.
Also besteht aus ganzheitlicher Sicht durchaus Behandlungsbedarf.

In der TCM
bezeichnet man Disharmonien mit Schwindel, Tics. Krämpfen, Lähmungen, Bewusstseinsverlust etc. als „verlegte Sinnesöffnungen“ („verlegt“ im Sinne von „blockiert“) oder auch als „verlegte Herzöffnungen“, da das Herz das Meisterorgan der Sinnesorgane ist.
Wie kommt es aber zu dieser plötzlichen Verlegung?

Hier muss man schon weit vor dem Beginn der scheinbar akuten Symptome mit der Suche beginnen.

Es gibt zwei Haupt-Entstehungsmuster:
o den Yin-Mangel-Typ
o den Blut-Mangel-Typ

Der Yin-Mangel-Typ
Alte Lebewesen neigen zu Trockenheitssymptomen, die physiologisch sind und gegen die man nichts tun kann. Man denke nur an Fältchen und Falten bei uns Menschen. Im Alter trocknen die Lebewesen langsam aus.
Wird diese Austrocknung durch falsche Ernährung, Medikamente (auch naturheilkundliche!), psychische Belastungen etc. über das physiologische Maß hinaus verstärkt, entsteht in der Regel als Wurzelstörung erst ein Nieren- und daraus ein Leber- und / oder Herz-Yin-Mangel.
Durch die mangelhafte mäßigende Kraft des Yin, kann das Yang aufsteigen. Hier handelt es sich in der Regel um das Leber-Yang.
Yang bedeute unter anderem Hitze. Jeder, der schon einmal neben einem Feuer gestanden hat, weiß, dass die Hitze des Feuers aufsteigenden Wind erzeugt. Ebenso geschieht es im Körper: vom wurzellosen Yang aufgeheizt steigt innerer Wind auf und erzeugt Symptome im Kopfbereich, wie gerötete, trockene Schleimhäute, Kopfschmerzen, Schwerhörigkeit, Sehstörungen, aber auch Unruhe und Reizbarkeit.
Die Unruhe setzt gerne in der Yin-Zeit, also abends und nachts ein. Wer einmal einen alten Hund hatte weiß, dass sie gerne abends und nachts ruhelos und hechelnd umherstreifen.
Sie weisen ihre Halter durch diese Symptome darauf hin, dass etwas in Disharmonie geraten ist.
Da das scheinbar vermehrte Yang aus einem Yin-Mangel resultiert, sind die Symptome häufig nicht dramatisch und werden vom Tierhalter übersehen oder als typische Altersbeschwerden hingenommen.

Tiere des Yin-Mangel-Typs zeigen mehr Hitze-Symptome (scheinbares Yang) und scheinen durch die Unruhe und Reizbarkeit agiler als die des Blut-Mangel-Typs.

Der Blut-Mangel-Typ
Auch hier ist beim älteren Tier in der Regel die Wurzelstörung ein Nieren-Yin-Mangel. Der Yin-Aspekt der Nieren- Essenz fördert die Blutbildung. Ist er in einem Leerezustand, wird nicht mehr genügend Blut gebildet.
Kommt noch eine Disharmonie der Milz, meist Milz-Qi und/oder -Yang-Mangel hinzu, kann die Nahrung nicht mehr ausreichend für den Körper aufgeschlossen werden. Das zur Blut- und Qi-Bildung benötigte Nahrungs-Gu-Qi wird nicht in ausreichendem Maße hergestellt.
Andere Ursachen für chronischen Blut-Mangel sind natürlich Blutungen, z.B. Tumorblutungen.

Die Leber trägt nicht zur Blutbildung bei, speichert aber das „überschüssige“ Blut, reguliert die zirkulierende Blutmenge, sorgt für Durchblutung aller Organe und der Muskulatur und ist verantwortlich für das freie Fließen des Blutes. Ist zu wenig Blut vorhanden, kann sie diesen Aufgaben natürlich nicht mehr in vollem Maße nachkommen.
Blut ist eine Yin-Substanz. Manche Autoren setzen das Leber-Blut mit dem Leber-Yin gleich.
Der Leber-Blut-Mangel unterscheidet sich aber vom Leber-Yin-Mangel durch die fehlende Hitze-Symptomatik. Blut hat eine erwärmende Funktion, die natürlich geschwächt wird, wenn weniger Blut vorhanden ist. Deshalb kommt es trotz Yin-Leere nicht zu überschießenden Yang-Symptomen.

Durch Blut-Mangel kann es zu innerem Wind kommen. Giovanni Maciocia beschreibt das wie das Phänomen der leeren U-Bahn-Schächte, dort bildet sich teils starker Wind. Genauso bildet sich innerer Wind in den leeren Blutgefäßen.

Leber-Blut-Mangel erzeugt Symptome wie Müdigkeit, Sehstörungen, Schwindel, Mangelernährung der Muskeln Sehnen und Krallen, Muskelschwäche, Muskelatrophie, stumpfes, struppiges Fell, trockene Haut und Unruhe in der Yin-Zeit, also abends und nachts.

Tiere des Leber-Blut-Mangel-Typs zeigen eher Kältezeichen wie blasse Schleimhäute und Kälteaversion. Sie sind nicht so unruhig wie die Yin-Mangel-Typen, bei ihnen steht Schwäche im Vordergrund.

Ist ein Milz-Yang-Mangel die Ursache für die mangelnde Blutbildung kommt noch ein weiteres Problem hinzu: es kommt zur Ansammlung von Feuchtigkeit im Körper, die sich durch Hitze oder Kälte in Schleim verwandeln kann. Schleim neigt in seiner immateriellen Form zum Aufsteigen und sammelt sich gerne in den oberen Körperzonen an (Schleim in Shen). Die Tiere wirken stumpf, starren manchmal abwesend in eine Richtung, wirken senil.

All das sind Symptome, die viele alte Hunde und Katzen zeigen.

Eskalation
Yin-Mangel und Blut-Mangel sind die Wurzelerkrankungen.
Bei beiden Typen muss jetzt noch ein Auslöser hinzukommen, um das Vestibularsyndrom auszulösen. Das können zum Beispiel physische oder psychische Belastungen, Medikamentengaben (z.B. Diuretika, trocknende Kräuter, leberbelastende Medikamente…) oder Ernährungsfehler (zu fett, zu kalt, zu süß, Milchprodukte) sein.
Das Yin kann das Yang nicht mehr verwurzeln und es steigt auf.

Beim Yin-Mangel-Typ passiert das heftiger. Das aufwallende Yang schickt den inneren (Leber-)Wind aufwärts und er verlegt die Sinnesöffnungen. Das Tier zeigt die typischen Symptome des VS, ist dabei aber sehr unruhig, vielleicht ängstlich.

Beim Blut-Mangel-Typ entsteht der innere Wind durch die Leere in den Blutgefäßen und er steigt nicht so heftig auf, wie beim Yin-Mangel-Typ. Das Tier zeigt ebenfalls die typischen Symptome des VS, ist dabei aber schwach, kalt und müde bis apathisch.
Ist durch einen Milz-Qi oder-Yang-Mangel bereits Schleim im Shen, reicht wenig innerer Wind aus, um das VS auszulösen, da die Sinnesöffnungen bereits durch den Schleim blockiert sind. Diese Tiere sind apathisch bis komatös.

Akuttherapie
In beiden Fällen ist die Akuttherapie erst einmal das Ergänzen von Yin um das Yang zu verwurzeln. Yin kann man nicht ausschließlich mit Hilfe der Akupunktur stärken, denn man kann durch sie keine fehlende Struktur zuführen.
Ist zu wenig Yin im Körper, muss dieses von außen ergänzt werden. In diesem Falle am besten durch eine Infusion.

Den Wind vom Kopf kann man ableiten mit Punkten wie Le 3, GB 20, Du 20 und anderen.
Der wichtigste Punkt um substanzlosen Schleim vom Kopf abzuleiten ist Ma 40.
Die Sinnesöffnungen befreit man mit Punkten wie Pe 5 und He 9.
Das Bewusstsein belebt man mit Ni 1, der Punkt entfernt Hitze, besonders vom Kopf
Vorsicht! Die Tiere sind in einem Leerezustand. Da jedes Setzen einer Nadel etwas schwächt, darf man nicht zu viele, dafür aber wohlgewählte Punkte stechen.
Lokalpunkte sind z.B.
GB 2 vertreibt Wind und Kälte, öffnet das Ohr
Dü 19 öffnet das Ohr
SJ 21 klärt Hitze, unterstützt das Ohr
SJ 22 vertreibt Wind, öffnet das Ohr, macht die Netzgefäße durchgängig

Den Blut-Mangel-Typ muss man warm halten, keinesfalls darf man aber moxen, um das Yang nicht aufsteigen zu lassen und damit den inneren Wind zu nähren.

Weiterführende Therapie
In der Folge ist es wichtig, die Wurzel der Erkrankung zu behandeln.
In der Regel ist die primäre Disharmonie ein Nieren-Yin-Mangel, aus dem sich andere Disharmonien entwickeln (Herz-, Leber-Yin-Mangel, Milz-Yang-Mangel, Blut-Mangel etc..)
Für jeden Fall muss ein individuelles Konzept erarbeitet werden.

Ein wichtiger Faktor der Nachbehandlung ist die Ernährung!
Alle Nahrungsmittel sollten leicht verdaulich sein. Getreideprodukte und rohes Fleisch sollten vermieden werden. Barfer mögen es mir verzeihen, aber besonders das energetisch kalte (weil vorher eingefrorene) Rohfleisch schädigt das Milz-Yang, was die Blutbildung behindert und zu Schleimansammlungen führt. Das gleiche gilt für rohes Gemüse.
Ein absolutes Tabu sind Milchprodukte und Süßigkeiten, da sie stark schleimbildend sind! Achtung, in vielen Fertigfuttermitteln und Leckerchen ist Zucker versteckt.
Die Tiere sollten in einem guten Futterzustand gehalten werden. Über- und Unterfütterung schädigen die Milz. Es sollten lieber mehrere kleine Mahlzeiten als eine oder zwei große gefüttert werden, damit das „Verdauungsfeuer der Milz“ nicht erlischt und unter Energieaufwand immer wieder angefacht werden muss.
In der Humanmedizin stellt man eine Verbindung zwischen üppigen Mahlzeiten und Krampfanfällen her. (*3)

Yin und Blut kann man sehr gut über Kräuter stärken.
Wichtige Yin-Tonika unter den westlichen Kräutern sind:

Althaea radix, Eibischwurzel nährt Yin von Ni, Lu, Ma, Bl, Darm
Avena sativa semen, Hafer (flocken) nährt Yin von Le, Ni, He
Cetraria islandica, Isländisches Moos nährt Yin von Le, Ni, Lu, Ma, Darm
Stellaria media herba, Vogelmierenkraut nährt Yin von Le, Ni, Lu, Ma
Trifolium pretense flores, Roter Wiesenklee, Blüten nährt Yin von Le, Ni, Lu, Bl

Wichtige blutbildende Kräuter sind:
Angelica sinensis radix, Chinesische Angelicawurzel, He- und Le-Blut tonisierend
Vaccinium myrtillus fructus, Heidelbeerenfrüchte, Le-Blut tonisierend
Urtica urens semen, Brennesselsamen, Blut tonisierend
(*2)

Achtung! Stärkt man über Kräutergaben das Yin zu sehr, kann es zu Stagnationen kommen. Deshalb muss in jede Yin stärkende Rezeptur unbedingt eine Qi und Blut bewegende Droge aufgenommen werden! Z.B. Ginkgo folia (Ginkgoblätter), Aesculus hippocastanum semen (Rosskastaniensamen) oder Mellilotus officinalis herba (Steinkleekraut).

Betrachtet man nun die Entstehung des VS, ist es klar, warum sich einige Tiere unbehandelt nicht so recht davon erholen oder auch, warum sich nach einiger Zeit Krampfanfälle einstellen können. Auch bei denen handelt es sich ja um aufsteigenden Wind.


Quellen:
*1: Leitfaden Chinesische Medizin, Focks, Hillenbrand, 5. Auflage, Juni 2006, Urban&Fischer
*2: 180 westliche Kräuter in der Chinesischen Medizin, Magel, 2013, Haug
*3: Leitfaden ‚Naturheilverfahren in der Kleintierpraxis, Wynn/Marsd

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